Sonntag, 4. September 2016

Der Pelzwecker

Als Benji bei mir einzog, war sein Partnerweibchen Lea leider noch nicht vermittelbar. Daher bekamen wir für ein paar Wochen ein reizendes Meerschweinchen-Weibchen namens Annabell zu Gast, als Leihschweinchen von Leas Züchterin. 
Annabell und Benji verstanden sich sehr gut, nachdem Benji – ganzes Meerschweinchen-Männchen, das er war – endlich gelernt hatte, dass die Dame es nicht so schätzte, wenn er ständig versuchte, unter ihr Zuflucht zu suchen, wenn ihn etwas erschreckte. Da er ganz neu bei mir eingezogen war, war das ungefähr 23 Stunden am Tag der Fall, sodass Annabell ständig einen Bauchwärmer ihr Eigen nennen konnte.
Nachdem es nichts gibt, dass ein verschrecktes Meerschweinchen-Männchen besser beruhigt als ein starkes Weibchen an seiner Seite, das ihm sagt, wo es lang geht, war mir Annabell in diesen ersten Wochen eine große Hilfe. Nur in einer Angelegenheit war unser Verhältnis durch ein kleines Missverständnis getrübt: ich war (und bin) diejenige, die bestimmt, wann es Frühstück gibt – und Annabell meinte, dass es zu ihren hausschweinlichen Pflichten gehörte, zu bestimmen, wann es Frühstück gibt.

Von Montag bis Freitag gab es in dieser Beziehung eigentlich kein Problem. Ich musste, dank meines zuverlässigen Radioweckers, ohnehin so früh aus dem Bettchen kriechen, dass nicht einmal Annabell Einwände hatte. Aber am Samstag, ja am Samstag ...

Ich lag also zu nachtschlafender Zeit – es war etwa 7°° morgens – gemütlich im Bett, gerade am genüsslichen Aufwachen ohne Wecker, der einen aus frühmorgendlichen Träumen reißt. Da erklang auf einmal ein forderndes Fiepen. Im ersten Moment war ich erstaunt. Ich teilte zu diesem Zeitpunkt Tisch und Bett (na ja, Bett eigentlich nicht) seit fast 15 Jahren mit Meerschweinchen – und noch nie hatte eines die Frechheit besessen, um diese Tageszeit nach Zimmerservice zu verlangen.
Langsam öffnete ich ein Auge, schielt in Richtung Radiowecker und sank wieder in die Kissen zurück. Es war Samstag, verdammt!

Also gut, Ruhe bewahren, auf die andere Seite drehen, die Augen wieder schließen und genüsslich strecken. Sollte das kleine Biestchen doch ein bisschen Morgenmusik machen. Ich hatte schon öfters einen kleinen Fieper ignoriert. Doch Annabell hatte Ausdauer – und das Dumme an der Sache war, dass ich eigentlich aufstehen wollte. Schließlich war Samstag, der Tag des Hausarbeit nach einer Woche, in der ich nur außer Haus gearbeitet hatte ... Aber eines war mir natürlich klar: Wenn ich jetzt aufstand und in die Küche tappte, würde Annabell sich der Gewissheit hingeben, dass ihr Fiepen mich – wenn auch mit einiger Verspätung, aber immerhin – herbeigerufen hatte. Nun war Annabell zwar nur für einige Wochen bei mir zu Gast und insofern wäre es nicht so schlimm gewesen, wenn sie sich jedes Wochenende in einen Pelzwecker verwandelt hätte. Aber nicht auszudenken, was Benji dadurch gelernt hätte. Jahre voll mit Samstagen, Sonntagen und Feiertagen, an denen mich forderndes Meerschweinchen-Geschrei aus dem Bett katapultiert hätte, breiteten sich vor meinem geistigen Auge aus. Welch grauenhafte Vorstellung!
Das durfte nicht passieren!

Also lag ich an diesem Samstag Morgen im Bett und wartete. Ich wartete auf eine Pause im morgendlichen Fiepkonzert. Und zwar auf eine Pause, die wirklich einige Sekunden anhielt und nicht nur ein kurzes Luftschnappen war, und eine Pause, die lang genug war, um aufzustehen, in die Küche zu marschieren, den Meerschweinchen fröhlich einen wunderschönen Morgen zu wünschen und das Küchenradio einzuschalten, sozusagen als akustische Untermauerung der Tatsache, dass ich wach war, aufgestanden aus eigenem Antrieb. Und in dieser ganzen Zeit durfte Annabell nicht zufällig wieder ihr Schnäuzchen öffnen und eine Zugabe ihres stimmlichen Könnens geben. Ich lag also im Bett, an diesem Samstag Morgen, und wartete auf eine Gelegenheit, aufstehen zu können, ohne die nächsten Jahre in ein Chaos meerschweinchenbestimmter Morgenaktivitäten zu lenken.

Und ich darf verraten, dass sie kam – die Pause. Also schnell auf, schnell in die Küche, schnell das Küchenradio einschalten und schnell die Meerschweinchen begrüßen. Annabell, die sich gerade an einem Heuhalm gütlich tat, sah mich vielleicht ein bisschen verwundert an, wo ich denn auf einmal so schnell herkam, aber bald darauf gab es Frühstück – und alle waren zufrieden.

Natürlich blieb der Sonntag spannend. Ich war eisern entschlossen, meine Tatik des Vortages zu wiederholen, aber es war gar nicht notwendig. Annabell gab ein kurzes Konzert, ein paar Strophen nur, mehr nicht – und dann herrschte wieder Stille, wohltuende morgendliche Stille – nur unterbrochen von der allerliebsten Familie über mir, die Sonntag Morgen des öfteren für die ideale Zeit hält, um Schnitzel zu klopfen oder ähnlich passende Dinge durchzuführen. Aber Menschen lassen sich leider nicht so leicht erziehen wie Meerscheinchen. ;-)

Noch ein kleiner Tipp für alle, die sich jetzt vielleicht ermuntert fühlen, ihre eigenen Pelzwecker am Wochenende in den Sleep-Modus zu schicken. Am besten bringt man den Tieren gleich vom ersten Tag an bei, dass man es gar nicht schätzt, am Wochenende geweckt zu werden. Ein einziges gerührtes Zum-Käfig-Stürzen, weil die kleinen pelzigen Neuzugänge so herzerweichend quietschen, ist schon der erste Schritt auf einem verhängnisvollen Pfad. Hat Meerschwein gelernt, dass Mensch durch Fiepkonzerte zur Herausgabe von Futter zu bewegen ist, braucht man viel Geduld, starke Nerven, unter Umständen geduldige Nachbarn und – sagte ich es schon? – viel Geduld, um die Pelzwecker auf Wochenend-Modus zu eichen. Hartnäckiges Ignorieren des Morgenkonzerts und zeitgerechte Bestätigung der wohltuenden Pausen sind der einzige Weg zum Glück. Schon ein höfliches „Würdet ihr bitte die Güte haben, eure kleinen Zuckerschnäuzchen zu halten“ – vielleicht auch in einer nicht ganz so höflichen Formulierung – ist den Tierchen Bestätigung genug, dass da jemand ist, der irgendwann schon reagieren wird, wenn man nur lang genug ruft. Und natürlich wird die Sache auch um so schwieriger, je mehr Pelzwecker man unter seinem Dach beheimatet, denn bei mehreren Fiepern ist es fast nicht möglich, eine ausreichend lange Pause zu finden, um die wohltuende Ruhe durch seine werte Aufmerksamkeit zu bestätigen.

Doch nicht den Mut verlieren! Und nicht vergessen, noch sind es nur die menschlichen Futtersklaven, die die Kühlschranktür aufmachen können. ;-)